Umzug von Norwich nach Hagen mit 10-jährigem Sohn
Brigitte aus Norwich hat sich nach einem Aufruf meinerseits, von persönlichen Rückwanderungserfahrungen zu berichten, geantwortet und mir netterweise ein sehr interessantes Interview gegeben. Sie ist mit dem jüngeren ihrer zwei Kinder von Norwich nach Hagen gezogen. Von Beginn an war es eine Rückwanderung auf Zeit und leider macht es den Anschein, dass sie es in Deutschland hätten besser treffen können.
Liebe Brigitte, vielen Dank für deinen ehrlichen Erfahrungsbericht. Insbesondere die Unterschiede, die von dir aufgezeigten Unterschieden, Kinder bei einem Schulwechsel vom englischen ins deutsche Schulsystem verunsichern können, sind sehr hilfreich. Ich hoffe sehr, dass es euch zurück in Norwich dann wieder besser ergehen wird!
Wie lange lebt ihr schon in England?
Ich habe 23 Jahre in England gelebt. Die ersten 17 Jahre in London, und danach in Norwich. Ich wollte für immer bleiben. Mein Partner, mit dem ich allerdings nie zusammengelebt habe, ist Engländer. Seine Eltern sind beide ursprünglich aus Nordirland und haben zuletzt in Norwich gelebt, und aus diesem Grund sind wir auch nach Norwich gezogen, als wir London verlassen wollten.
Meine Eltern lebten in Deutschland. Ich habe in London als Sekretärin gearbeitet, bis ich meine Tochter bekommen habe. Nach einigen Jahren habe ich dann angefangen, als freiberufliche Übersetzerin zu arbeiten.
Wie kam es zu den Plänen, nach Deutschland zu ziehen?
Mein Vater war 2006 verstorben und ich habe keine Geschwister. Daher war meine Mutter alleine und es war abzusehen, dass sie irgendwann Hilfe brauchen würde. Meine Tochter war fast erwachsen, und ich hatte daher geplant, zu einem bestimmten Zeitpunkt (2016) nach Deutschland zu ziehen.
Sie war da 17 und hatte nur noch ein Jahr bis zu ihren A-Levels. Ich wollte allerdings nicht noch ein Jahr warten, da mein Sohn zu dem Zeitpunkt 10 war, und ich dachte, es würde besser für ihn sein, wenn er noch ein Jahr in die Grundschule gehen könnte, anstatt gleich in eine weiterführende Schule zu kommen.
Welche Bedenken hattest du bei der Planung des Umzugs nach Deutschland?
Meine größten Bedenken waren die Trennung von meiner Tochter, da wir ein sehr enges Verhältnis hatten und haben. Ich dachte, mit 17 würde sie okay sein, und ihr Vater ist in mein Haus gezogen, so dass sie zu Hause wohnen bleiben konnte. Aber es war eine schwierige Zeit für sie, mit A-Level Stress und Uni-Bewerbungen zur gleichen Zeit.
Nachdem du dich entschieden hast umzuziehen: Wie ging es weiter?
Bei mir war es einfach, da ich mich nicht um Jobs kümmern musste, und ich habe auch mein Haus in Norwich behalten und die meisten meiner Sachen drin gelassen. Daher musste ich nur einen kleinen Umzug organisieren, eine Wohnung in Deutschland kaufen und meinen Sohn an einer Schule anmelden.
Wie haben deine Kinder auf die Umzugspläne reagiert?
Mein Sohn reagiert auf solche Sachen eigentlich eher mit stoischer Gelassenheit. Meine Tochter war schon alt genug, um die Gründe zu verstehen, und sie ist ja auch nicht mitgekommen.
Welche Tipps für die bürokratischen Dinge hast du?
Man sollte sich auf keinen Fall in Deutschland offiziell anmelden, bevor man tatsächlich umzieht. Viele machen das, damit sie schon ein Bankkonto eröffnen können oder andere Sachen vorab erledigen können. Das kann aber Probleme mit der Krankenkasse geben, denn die verlangen eine Anmeldebestätigung und wollen dann Beiträge ab dem Datum der Anmeldung. Und die Krankenkassenbeiträge können recht erheblich sein, gerade für Selbständige.
Hast du erst den Job oder den Wohnort gesucht?
Ich bin in meine Heimatstadt zurückgezogen und arbeite weiterhin freiberuflich von zu Hause, also ich mache genau das Gleiche, was ich in England gemacht habe.
Wo in Deutschland hat es euch hingezogen und wie seid ihr bei der Wohnungssuche vorgegangen?
Ich wollte eine Wohnung für mich und meinen Sohn in meiner Heimatstadt Hagen kaufen. Mieten kam für mich nach so langer Zeit in England irgendwie nicht mehr in Frage. Das habe ich dann auch gemacht, obwohl ich die Wohnung dann ziemlich schnell vermietet habe, da wir dann doch ins Haus meiner Mutter gezogen sind (wollte ich eigentlich nicht), da es sonst nicht praktikabel gewesen wäre.
Das Haus ist groß genug für 3 Personen, und ich hatte so viele zusätzliche Kosten (hauptsächlich die Krankenkassenbeiträge), dass es einfach eine Geldverschwendung gewesen wäre, und so hatte ich zusätzliche Einkünfte von der Miete.
Hattest du ein Mitspracherecht bei der Schulwahl?
In Deutschland gibt es ja fast kein Mitspracherecht in der Form, zumindest nicht bei Grundschulen. Mein Sohn wurde einfach in der nächstgelegenen Grundschule angemeldet, und das war überhaupt kein Problem. Bei weiterführenden Schulen, wo die Kinder ja dann doch etwas weiter unterwegs sind, gibt es schon Schulen, die beliebt und ‚oversubscribed‘ sind.
Wie gut konnte dein Sohn Deutsch sprechen, lesen und schreiben?
Ich habe mit beiden Kindern grundsätzlich immer nur Deutsch gesprochen. Also sprachen beide fließend Deutsch, mein Sohn vielleicht nicht ganz so gut. Aber beim Schreiben und bei der Grammatik hatte er Probleme. Vielleicht hätte ich mir doch etwas mehr Mühe bei der Aussprache von ‚dem‘ und ‚den‘ geben sollen … also die Hauptprobleme waren die Fälle und die Rechtschreibung. Lesen war kein Problem.
Ich hatte mir schon gedacht, dass er mit 10 Jahren diese Sachen vielleicht nicht mehr automatisch lernt wie kleinere Kinder, aber ich hatte gehofft, dass es mehr Angebote gibt für Kinder, die nicht Deutsch als Muttersprache bzw. erste Sprache haben.
Was waren die größten Bedenken, die deine Kinder äußerten?
Er hat keine Bedenken geäußert.
Wie hat sich dein Sohn in der Schule eingelebt?
Nicht so gut. Er war ziemlich verunsichert, da er ja in die 4. Klasse gekommen ist, und alle anderen Kinder waren natürlich schon gut eingelebt und an das Schulsystem gewöhnt. Außerdem sind Kinder in Deutschland generell viel selbständiger. Das wird auch in der Grundschule schon erwartet. Es wird ihnen nicht ständig gesagt, was sie wann machen sollen. Ich nehme an, dass Kinder das halt nicht in dem Maße brauchen, wenn sie erst mit 6 oder sogar 7 die Schule anfangen und die Lehrer daher von vorneherein mehr Selbständigkeit erwarten können.
In deutschen Schulen, auch Grundschulen, wird viel mit Schnellheftern für die einzelnen Fächer gearbeitet, die alle von den Kindern zur Schule mitgebracht und selbständig geführt werden. In England wurden in jeder Stunde Blätter ausgegeben, die dann bearbeitet wurden. Hier ist ein ständiges Abheften in die verschiedenen Schnellhefter, und das hat ihn am Anfang überfordert, da er generell schnell verunsichert ist. Er wusste auch oft nicht, wo er hingehen sollte. Ich weiß noch, dass er an einem der ersten Tage einfach auf dem Schulhof stehen geblieben ist, als die letzte Stunde ausgefallen ist (ich hatte ihn da noch immer abgeholt), weil ihm keiner gesagt hat, dass er jetzt gehen soll. Er hat dann einfach da gestanden und hat geweint, bis ein Mädchen aus seiner Klasse sich um ihn gekümmert hat. Aber ein Erwachsener war nicht zu ihm gekommen.
Vielleicht sollte ich auch noch erwähnen, dass in Deutschland ziemlich viel Unterricht einfach ausfällt, außer vielleicht an Gesamtschulen. Bei seiner jetzigen Schule war es teilweise so viel, dass in einer Woche praktisch insgesamt ein ganzer Schultag ausgefallen ist. Bei der Grundschule hat mir auch jemand erzählt, dass die Kinder damals im 1. Schuljahr an einem Tag mal einfach früher nach Hause geschickt wurden, weil Stunden ausfielen. Und das im strömenden Regen, und manche der Kinder waren noch zu klein, um an die Klingel zu kommen.
Gegen Ende des Jahres hatte die Lehrerin ihn praktisch aufgegeben. Sie hat mir direkt gesagt, ich sage gar nichts mehr zu ihm, sonst fängt er immer gleich an, zu weinen. Dann hat sie ihm in allen Fächern eine 3 gegeben, weil sie nichts mit ihm anfangen konnte, und hat die Realschule für ihn empfohlen.
Was mich auch sehr enttäuscht hat, war dass keine der Eltern besonders auf uns zugekommen sind. Da im 4. Schuljahr die Kinder eigentlich alle alleine zur Schule und wieder nach Hause gehen, sieht man sich praktisch gar nicht. Aber alle Eltern kannten sich schon seit mindestens 3 Jahren, und es gibt auch eine Liste mit Namen und eine ‚Klassenpflegschaftsvorsitzende‘, die auch einen Sohn hatte und uns vielleicht mal hätte einladen können. Das ist aber nie passiert. Mein Sohn hatte dann eigentlich nur zwei Freunde, einen Jungen, der Asperger hatte und mit dem die meisten nicht spielen wollten, und einen anderen Jungen, dessen Familie nicht Deutsch war und der auch irgendwie nichts richtig machen konnte in der Schule.
Ich merke gerade, dass ich wirklich sehr desillusioniert bin durch diese Erfahrung in der Grundschule. Die Realschule war viel, viel besser, zumindest die ersten drei Jahre. Jetzt ist er 14 und hat sich durch die Pubertät noch mal sehr verändert, so dass wir eigentlich jetzt gerade mitten in der Diagnose einer möglichen autistischen Störung stecken. Also ist die Schule gerade wieder mal sehr, sehr schwierig. Ich denke oft, dass es in England weitaus einfacher wäre. Ich hatte da immer mal Kinder mit diversen .Verhaltensauffälligkeiten‘ getroffen; das gab es eigentlich an allen Schulen, die ich da kennengelernt hatte, aber die Lehrer und anderes Personal schienen viel besser geschult zu sein in der Hinsicht, und es war generell eine viel größere Sensibilität da für solche Sachen. In den englischen Schulen ist glaube ich immer der höchste Grundsatz, ‚every child is an individual‘. Hier in Deutschland hört man an den Schulen stattdessen, ‚die Kinder müssen sich anpassen‘. Die meisten Lehrer haben absolut kein Verständnis für Kinder, die irgendwie ‚anders‘ sind.
Welche Tipps hast du für anderen Eltern in Bezug auf den Schulwechsel ins deutsche Schulsystem?
Wenn Ihr eine ‚normale‘ Familie mit zwei verheirateten Eltern (mit einem ‚Familiennamen‘!) seid und Eure Kinder in jeder Hinsicht ‚normal‘ sind, also keine Verhaltensauffälligkeiten oder -störungen haben, sind die Chancen sicherlich gut. Eure Kinder sollten auch möglichst aufgeschlossen sein und gut Freunde finden können. Selbstbewusstsein ist extrem wichtig, denn in den weiterführenden Schulen ist, wie auch früher schon, die mündliche Mitarbeit Teil der Noten und zählt oft über 50%. Wer also als Kind schüchtern ist und sich nicht traut, sich zu melden, und sich nicht durchsetzen kann, verbaut sich möglicherweise Chancen fürs Leben. Das war früher so in Deutschland und hat sich auch nicht geändert. Meine Tochter (in England) war in ihrer Schulzeit extrem schüchtern und unsicher und hat kaum mal was gesagt. Sie war aber gut bei Prüfungen und hat immer gut abgeschnitten. Jetzt studiert sie Medizin und ist viel selbstbewusster. Das hätte in Deutschland nie passieren können.
Hast du sonst noch einen Tipp für Rückwandererfamilien?
Geht mit einer positiven Einstellung an die Sache heran! Für viele Kinder ist Deutschland und die Schule hier bestimmt eine tolle Option. Ich wusste vorher schon, dass wir nicht für immer hier bleiben. Im Sommer wollen wir zurück nach England. Dann werde ich vielleicht die Schule hier vermissen …
Vielen Dank liebe Brigitte!!
Wenn dich weitere Erfahrungen von Familien und Einzelpersonen interessieren, die in den letzten Jahren von UK nach Deutschland zurückgewandert sind, kannst du sie auf der Rückwanderer-Erfahrungen Seite von mir nachlesen.